Der festzuhaltende Gedanke: was bedeutet im Archiv für ungeschriebene Texte "ungeschrieben"? Handelt es sich hier um eine reine rhetorisch geblümelte Paradoxie? Dazu fallen mir zwei Dinge ein: 1. Es gab mal bei der Textverarbeitung die Kategorie der "unsichtbaren Texte". Das waren z.B. per Kommentarfunktion eingefügte Kommentare, die sich beim Ausdrucken oder Umwandeln in eine PDF auch verbergen ließen und auch unter Druckfunktion als "verborgene Texte" bezeichnet wurden. Diese unsichtbaren Texte können für das Textverständnis von größerer Bedeutung sein. Sie haben eine hermeneutische Relevanz. Es konnten auch Absätze als "unsichtbarer Text" formatiert werden.
2. Es gibt die Formulierung für feste Konventionen und Regeln als "ungeschriebenes Gesetz". Auch wenn sie nicht kodifiziert wurden, haben sie eine Geltung und der Verstoß gegen sie hat Konsequenzen. Sitten und Gebräuche können zu ungeschriebenen Gesetzen gezählt werden.
Aus diesen beiden Punkten bildet sich für mich der Sinn für "ungeschriebene Texte". Sie sind unsichtbar und doch auch handlungsrelevant. Ideen haben einen solchen Charakteraspekt. Ich möchte sie nicht darauf reduzieren, aber es ist nicht unwesentlich, dass sie unsichtbar und wie ungeschriebene Gesetze wirken können. Ein Archiv für sie könnte der Ort sein, wo sie expliziert und kodifiziert werden, ohne dass sie komplett in dem ausgeführt werden, was sie in die Realität zu bringen imstande sind. Ein Roman z.B. kann ideell existieren, ohne als Buch oder Manuskript vorhanden zu sein. Und wenn man ihn schriebe, könnte er in verschiedenen Versionen ausgeführt und realisiert sein. Im Archiv für ungeschriebene Texte befände sich also die Idee und nicht das Skript als eine in Text und Worte gegossene Version dieser Idee. Aber im Grunde ist ein ungeschriebener Text auch mehr als nur eine Idee im Sinne eines Themas als Einfall. "Darüber könnte man einen Roman schreiben" bedeutet noch nicht, einen ungeschriebenen Text zu haben. Dieser entsteht erst, wenn man sich eingehender mit dem Einfall zu beschäftigen anfängt.
Ich will es an meinem Hardenberg-Projekt erläutern:
Es könnte einen Roman abgeben und fängt auch so an: "Scheherazade ist geköpft. Man weiß nicht warum. 1001 Nacht lang hat sie den Sultan unterhalten, alles war gut, der Tyrann milde gestimmt und die Mutige begnadigt. Dann die 1002. Nacht: was ist geschehen? Scheherazade ist geköpft, enthauptet, ermordet. Der Sultan sitzt auf seinem Sofa, dem Diwan des Herrschers, und schweigt."
Das ist aber ein Teil eines ungeschriebenen Textes, weil es den Roman gar nicht gibt. Im Hardenberg-Blog wird es dann von Niklas Hardenberg als ein "Ablenkungsmanöver" gewertet, um ihn von seinem eigentlichen Vorhaben abzubringen, aus der Fiktion in die Realität seines Autors wechseln zu wollen. Nein, er will dem Fall "Scheherazade" nicht nachgehen! Das ist ein ungeschriebener Text. Er findet es spannender durch Einrichtungen der freien Kulturszene zu tingeln und für sich einen optimalen Platz auszusuchen, wo er gerne realiter bleiben würde. Also beginnt ein Hin und Her zwischen mir, dem Autor und meiner Figur Niklas Hardenberg, während wir sehr viele Orte, Topoi und Themen streifen. Davon existieren lediglich 24395 Zeichen. Das ist weit von einem Roman entfernt, zumal die Themen auch nicht annähernd ausgeführt und abgehandelt sind.
Aber ich habe mir Orte ausgemalt, die ich gerne aufsuchen würde, Themen, die ich gerne mit Hardenberg erörtern könnte, und immer wieder kämen wir natürlich auch auf Scheherazade zurück. Aber das ist ein Irrealis, denn der Text dazu ist unsichtbar und an vielen Stellen auch völlig unausgereift, um nicht zu sagen: inexistent. Aber diese Stellen sind wie Löcher, die von der Idee umgeben sind, sonst wären sie als Löcher nicht erkennbar. Hier kommen wir also den ungeschriebenen Texten näher. Je mehr wir sie kennenlernen, desto mehr Löcher sehen wir.
Ein Buch zu schreiben und nicht einfach nur zu schreiben, gab es der Anläufe mehrere: “Die Maschine des Selbstgesprächs”, “Bedingung und Möglichkeit. Eine rhizomatische Transzendentalphilosophie der Kultur”, “Politisches, Allzupolitisches” oder “Gespräche über Kultur und Kulturalität”. Es waren fiktive Gespräche mit teilweise realen und teilweise fiktiven Personen, philosophische Geh- und Erkenntnisversuche, die nun den Kinderschuhen entwachsen sind, ohne dass einer davon es zu einem Buch gebracht hätte. An produzierter Textmenge scheiterten sie nicht. Vielmehr waren sie als Versuche auch eine vergebliche Suche nach etwas, was ich mit Sigmund Freud den Grund für “Das Unbehagen in der Kultur” nennen könnte, ohne damit jenes Unbehagen zu meinen, das er psychoanalytisch untersucht und beschreibt. Nicht um Triebstruktur ging es mir, nicht um die Rolle der Gesellschaft bei der Kanalisierung individueller emotionaler Impulse durch Normen und Kontrolle, nicht um Verinnerlichung der Normen zur Triebverhinderung, die ihr Ventil dann in der Sublimierung der unterdrückten Triebe in Kulturleistungen finden. Mein Unbehagen war ein anderes, ohne mit dieser Behauptung mich der möglichen Wahrheit von Freuds psychoanalytischer These entziehen zu wollen. Egal, wie ich es anpackte, es fesselte mich nicht bis zum erreichen des als Ziel definierten Abschlusses in Buchform. Noch während ich schrieb und beschrieb, veränderte sich die Realität, mit der ich mich beschäftigte, oder es veränderte sich durch das Schreiben mein Blick. In der Manifestation der schriftlichen Formulierung verschwand die Realität, sie verlor für mich ihre Wirklichkeit, um dadurch noch mächtiger und wirksamer auf mich zurück zu fallen. Ich war in meinem eigenen hermeneutischen Zirkel gefangen und der Trick, Dialoge zu simulieren, brachte nicht das, was ich mir erhofft hatte, nicht in der “Maschine des Selbstgesprächs” und auch nicht in der Variation, reale und fiktive andere Personen in das Werk einzubeziehen. Den realen Personen legte ich immer Abschnittsweise den entstehenden Text vor, damit sie lesen konnten, was ich ihnen in den Mund gelegt hatte. Es war scheinbar so weit von ihrer Realität entfernt, dass es sie zu keiner nennenswerten Reaktion provozierte: “Sowas würde ich nie sagen!”, um von hier aus zu den Gegenthesen zu kommen.
Ein Buch erfordert eine zielorientierte Disziplin, eine Dramaturgie im Schreiben und eine eigene in der Argumentation, in der Aufeinanderfolge der Kapitel. Vielleicht ist aber gerade diese Annahme ein falscher Glaubenssatz, der der Entstehung eines Buches zum Verhängnis wird. Die Argumentation wird zum Fallstrick. Der Gedankenmarathon kommt nicht zum Ziel. Ich kann froh sein, keinen Verleger im Nacken zu haben, dem ich ein Buch gegen Vorkasse versprochen habe, was ich nicht schreibe. Nicht, weil ich nicht schreibe, sondern weil ich mich mit jedem Satz, den ich schreibe, vom ursprünglichen Ziel entferne. Aber ist das nicht im Grunde egal? Warum klebe ich so sehr an dem Ziel? Irgendetwas entsteht und das kann doch das Lektorat eines Verlages zu einem Bucb machen, oder etwa nicht?
Aber nun kommen wir zum Eigentlichen: wie kann ich es wagen, von einem Verlag zu träumen? Von einem Honorarvorschuss auf ein versprochenes, ungeschriebenes Buch? Wer sollte mir ein solches Vertrauen und eine Investition entgegenbringen und warum? Wer bin ich denn?
Das ist der Feudalismus des Kulturbetriebes. Nicht jeder Mensch ist ein Künstler, oder besser umgekehrt: Künstler sind auch nur Menschen. Wenn es so wäre, was sollte sie dann zum Künstler machen? Wer sollte sie adeln? Wer sollte die Tinte in blaues Blut verwandeln? Woher käme der Ritterschlag? Wer sollte entscheiden: ja, da ist Talent. Die anmaßenden Kritiker, die großmäuligen Beherrscher der Szene, die Literaturpäpste sind tot. Die Gruppe 48 aufgelöst, mittlerweile adeln hier und da die Verlage selbst. Aber selbst deren fähige Verleger, Idealisten mit Geld in der Hand, weilen nicht mehr unter uns. Sie haben die Verlage ihren Gelderben hinterlassen, ihr Talent zur Talenterkennung nahmen sie mit ins Grab. Werbeagenten und hilflose Lektoren, die Rechtschreibung und Zeichensetzung beherrschen, geben ihr Bestes. Irgendwie funktioniert der Apparat zweier Buchmessen, einiger Feuilletons und Verlagsvertreter, der dem Buchhandel die Platzierung im Schaufenster vorzuschreiben vermögen. Dieser These widersprach in meinem Kleinverlegerdasein ein Buchhändler: "Schauen Sie! Ich kann Ihr Buch direkt an der Kasse platzieren, und wette mit Ihnen, wir werden kein einziges Exemplar verkaufen!" Er hatte völlig Recht damit. Ich lieferte keine Flyer, keine Rezensionen, keine Plakate, keine Buchbesprechung im Fernsehen oder Rundfunk. Wahrscheinlich würde ein unter Leistungsdruck entnervter Lektor nun sagen: "Wenn es so einfach wäre, könnte ich ganz entspannt meinem Geschäft nachgehen und stünde nicht so unter Druck! Plakate, Flyer, Rezensionen kann ich liefern und doch floppen meine Bücher." Was soll ich sagen? Recht hat er! Die Faszination des Genies ist sagenumwoben und auf kein einfaches Strickmuster zurückzuführen, aber einfache Strickmuster im Stil und in der Geschichte können hilfreich sein, einen "Bestseller zu landen", wie es so schön heißt.
Wer oder was adelt also einen Literaten, einen Schriftsteller, einen Autor? Das Schreiben jedenfalls nicht! Der Platz neben der Kasse oder im Schaufenster des Buchladens auch nicht. Zumindest nicht allein. Aber warum floppen dann auch Bücher, bei denen alle Bedingungen fast erfüllt sind? Manchmal kommen die Bücher auch zum falschen Zeitpunkt, manchmal wird die öffentliche Aufmerksamkeit auf ein anderes Thema gelengt, andere Ereignisse kommen besser in den Vordergrund oder treffen den Nerv der Zeit, wie es auch so schön gesagt wird. Und was ich mir nur ungern eingestehen will, weil es mich doch auch der Hoffnung berauben könnte, worauf auch immer, manche Autoren, die ich für erfolgreich halte und zu bewundern gerne und neidlos bereit bin, haben es auch nicht viel leichter und besser als ich, und ihre Erfolgstantiemen sind längst aufgebraucht. Was bleibt, ist die Leidenschaft eines Sisyphos, der den Felsen rollt, Verzeihung: der Tag für Tag Text für Text schreibt, ohne Plan und Ziel auf ein Buch. Die Romantiker kannten den Künstler ohne Werk, wussten um die Existenz der Fragmente, um die Ruinen der Gedankengebäude angesichts der Ganzheitlichkeit des Universums mit seinen unendlichen Weiten. Vielleicht krümmt sich das Universum und ist eine Kugel, die wir selbst dann als endlos empfinden würden, wenn wir sie gänzlich bereisen könnten, weil es eine Kugel im Nichts wäre und keine Reise aus ihr hinausführte. Das Buch des Universums in seiner Ganzheitlichkeit wäre ein Kugelkopf mit Buchstaben un(be)schreibbarer Texte. Ein Kugelkopf, um den kein Apparat, keine Walze, kein Papier, nichts mehr existierte. Ein Kugelkopf im Vakuum, weshalb kein makrokosmisches Buch möglich wäre.
Angesichts dieser Kosmologie der Schriftstellerei bin ich froh, dass ich neben zwei schlafenden Hunden meine Spekulationen mir von der Seele bloggen kann. Darum müssen wir Sisyphos einen glücklichen Menschen nennen.
Ich muss mit Niklas Hardenberg darüber diskutieren, denn er ist der Ontologe des Nichts, so wie ich ihn erschaffen habe.
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