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Mausklick weit entfernt

Mausklick weit entfernt

 

Ein Mausklick nur - ein falscher! Und eine schön geschriebene und zu Ende formulierte Szenenreportage aus einem Film verschwindet im Nichts. Der fatale Fehler: er war ausgeschnitten und in ein Antwortfenster im Browser eingefügt, danach war ein Bild ausgeschnitten und in eine Grafikdatei zur Bildbearbeitung eingefügt, was den vorherigen Inhalt des Zwischenspeichers löschte. Und dann klicke ich aus Versehen das Antwortfenster weg - nicht zu, sondern einfach in den Hintergrund, was mir Fenster mit Inhalt löscht. Die formulierte Reportage nur noch Erinnerung. Gehört das ins Archiv für ungeschriebene Texte? Texte, die nur noch in Erinnerungen existieren, weil sie unwiederbringlich verloren sind? Die Virtualisierung der Schrift hat das zu einem nicht selten vorkommenden Fall gemacht. Ist ein verschollener Text aber ein ungeschriebener Text?

Ich ließ meinen Helden einst in einem Hörspiel in einer zynischen Laune gegenüber dem Zeitgeist auf einer mechanischen Schreibmaschine hämmernd sagen, er sei nur noch ein Mausklick weit vom Stein der Weisen entfernt. Er schrieb an seinem epochalen Roman, der auf dem Flohmarkt mit Spannung erwartet werde, "Ödipus in Platons Augenhöhlen". Projektionen, Spiegelungen, Verschachtelungen: warum Ödipus in Platons Augenhöhlen und nicht umgekehrt? Worum kann es in einem solchen Roman gehen?

Es gibt ein Gedicht von Nazım Hikmet, worin es u.a. heißt, das schönste Gedicht, sei das noch nicht geschriebene. Darauf sich besinnend ließe sich doch eine Lyrik des Schweigens entwickeln! Ich jedenfalls erlebte mit meinen Bemühungen Gedichte zu schreiben in einer sehr intensiven Phase etwas Seltsames: ich hatte mich so in Gedichte vertieft, dass ich sogar nachts im Schlaf schrieb und davon aufwachte. Ich hatte die meiner Ansicht nach perfekten Formulierungen gefunden - sie waren zum Greifen nah, mussten nur noch zu Papier gebracht werden - so klar und deutlich stand alles fest. Ich hatte kein Papier und keinen Stift zur Hand, schlief selig wieder ein, in der Gewissheit, ich könnte das Gedicht ja auch am Morgen aufschreiben - formuliert sei es ja schon. Doch am nächsten Morgen, als ich erwachte, waren die so deutlichen Erinnerungen an die Gedichte weg. Das passierte mir einige Male, bis ich daraus lernte und Papier und Stift griffbereit einschlief. Ich träumte nicht mehr von schönen Gedichten. So bleiben auch meine schönsten Gedichte ungeschrieben.

Kürzlich traf ich auf Rüdiger Gladens Bücher - welch eine philosophische Poesie - Gedankenströme und Bilder, Sprache von höchster Schönheit. Ich biss mich in wenigen Zeilen fest und in meinem Kopf entstanden ganze Rezensionen - seitenweise Text für das KULTURPROGRAMM. Unbedingt wollte ich und musste ich Rüdiger Gladen besprechen. Angestoßen von seinen Formulierungen rissen mich meine Gedanken fort. Ich hatte all die Texte plötzlich in meinem Kopf. Es sollte um die Poesie der Philosophie gehen, um die Ästhetik des Denkens und der Gedanken. Gladen sprach in die Zeit, wie er sich ausdrückte und sprach auch von einer historischen Archäologie. Hatte ich nicht unlängst vom Verhältnis des Logos zur Zeit geschrieben und in diesem Verhältnis um die Kausalität bereichert die Chronologie für mich entdeckt? Nun traf ich auf einen Verwandten im Geiste, auf einen Bruder, von dessen Existenz ich nichts wusste! Das musste unbedingt in einem ungeschriebenen Artikel gefeiert werden. So weit ist es also mit der Ästhetik der Gedanken und des Denkens, mit der Poesie der Philosophie.

Da sind noch ganz besondere Texte der extravaganten ungeschriebenen Art, solche, die ich ungeschrieben wähne, obwohl ich sie mehrfach hier und da und dort und dann wieder etwas abgeändert hier, dann aber auch da und auch dort wieder verfasst, formuliert und variiert habe. Diese Zitate meiner selbst, ich in der ewigen Wiederholungsschleife, weil ich immer der Meinung bin, dass der endgültige Text zu meinem Thema diesem einen noch nicht formuliert sei. Nein, dabei geht es nicht um die Ästhetik des Denkens, nicht um den Akt des Philosophierens wie ein Tanz, es geht auch nicht um das Prinzip des Universums und die Frage, ob das Universum überhaupt Prinzipien hat, es geht nicht um Leidenschaft und Sinnlichkeit im Zusammenhang mit der Philosophie und dem philosophierenden Denken, nicht um die tückischer Weise etwas banal klingende Formulierung Nietzsches: vorausgesetzt, dass die Wahrheit ein Weib sei... es geht nicht um meine auf einem Zettel formulierte Frage, ob Rüdiger Gladen, der klassischen philosophiehistorischen Dichotomie aufsitzt, die den Mythos dem Logos gegenüberstellt. Nicht die Frage, warum paarweise auftretende Begriffe sofort dichotomisch und nicht komplementär gesehen werden, wie es zum Beispiel mit Logos und Eros sein könnte, spielt eine Rolle. Nein, all diese Dinge sind in der Tat noch nicht formuliert und geschrieben, nicht codifiziert, wie es Juristen nennen würden, vielmehr geht es um meine Gedanken zur Freiheit! Immer habe ich das Gefühl, dass sie noch nicht formuliert seien. Dabei schreibe ich schon seit mindestens sechs Jahren immer mal wieder über die Freiheit und tatsächlich aber ist der endgültige Text, obwohl zum Greifen nah, noch inexistent und als ich wieder recherchiere und exzerpiere, ob ihn nun doch auszuformulieren, werde ich doch wieder mit der alten philosophischen Frage nach der Willensfreiheit konfrontiert, und mir fällt auf, dass dies mit meinem Gedankengang über Freiheit rein gar nichts zu tun hat. Für mich ist der Wille da, egal, wie er entstanden ist und ob er prädestiniert ist oder nicht, ich suche den Begriff der Freiheit an einem ganz anderen Punkt. Denn für mich ist Freiheit kein negativer Begriff und bedarf auch nicht der Abwesenheit von Hindernissen. Für mich ist Freiheit essentiell die Erfüllung des Logos. Freiheit ist die Bildung und Entfaltung des Lebens. Das kann von mir aus auch prädestiniert sein und bleibt doch frei. Aber lassen wir auch diesen Text über die Freiheit in vollkommener Freiheit als ungeschrieben ins Archiv wandern. Dieses Archiv ist ja dazu da, dass ein jeder findet, was er eigentlich unwissentlich sucht. Hier und da muss noch der eine oder andere Gedanke hierzu verschwendet werden. Die Systematik eines Archivs erlaubt es, alles Einsortierte wieder zu finden, es sei denn ein Mausklick nur, ein kleiner Fehlgriff in den Schubladen, schon lagern Dinge unauffindbar an falschen Orten.

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Migrantographie

Vor einigen Tagen fiel mir, weil ich in meinem Trotz der Köpfigkeit verfiel, ein Titel ein: «ich bin ein Türkenjunge - eine Migrantographie!» Ich habe auch überlegt, ob ich nicht von einer «Automigrantographie» sprechen sollte. Viele der in der dritten Generation in Deutschland lebenden und schreibenden Migrantennachkömmlinge betreiben einen egomanen sozialen Realismus und definieren ihre Schreiberei über ihre "Herkunft". Ob es Lyrik ist oder Prosa, die Hackerei auf der Tastatur, die keine Sachtexte hervorbringt, wird durch die Beschreibung dieser "Herkunft" und ihrer Folgen klassifizert, ist ein Teil der deutschsprachigen Literatur, aber eben keine deutsche Literatur. Wie die Autorinnen und Autoren stehen auch ihre Texte mit einem Bein in einer anderen vermeintlichen Heimat, als hätten Menschen, die einen künstlerischen oder schriftstellerischen Weg einschlagen eine solche. Die Spießigkeit dieser bürgerlichen Schreibe, die sich nach Norm und Bravheit sehnt, führt z