Ein dickes, zweitausend Seiten starkes Buch müsste geschrieben werden, und zwar von mir, da ja anscheinend sonst niemand die Notwendigkeit zu sehen scheint: Die Kritik der reinen Kunst.
Ein Sturm im rationalistischen Wasserglas könnte diese Kritik der reinen Kunst werden. Und natürlich wäre sie viel stürmischer und kritischer als die Kunstphilosophie in der Kritik der Urteilskraft. Ich will mich ja nicht zu allem und jedem äußern, wozu mein Vermögen gar nicht ausreicht. Aber zu Kunst und Kultur muss ich unbedingt schreiben.
Mir ist es sehr wichtig, zwischen Kunst und Kultur zu unterscheiden. Sie sind nicht synonym. Kultur umfasst jede menschliche Praxis der Hege und Pflege und der Zucht und Ordnung. Kunst ist nur ein kleiner Teil der Kultur, und zwar jener Teil, der kulturell systematisch marginalisiert wird und werden muss. Was ist nochmal das Wesensmerkmal der Kunst? Alle streiten darüber und runzeln die Stirn, als wäre die Antwort darauf, wer weiß, wie schwer! Dabei ist das Problem ein ganz anderes: es ist die Kunstfeindlichkeit, die sich hinter dieser Maskerade verbirgt. Wenn die Masken fallen, ist die Antwort einfach: das Wesensmerkmal der Kunst ist ihre Zweck- und Funktionslosigkeit oder Enthobenheit, z.B. Readymades im Museum. Sie sind ihren Funktionen enthoben.
Kunst ist funktionslos, funktionsentbunden. Klar können wir auch sagen: Kunst ist zweckfrei. Aber wir können auch zwischen Funktion und Zweck unterscheiden. Der Zweck der Kunst ist gerade jenseits von Funktionen zu sein, um gänzlich neue und unerwartete und unvorhersehbare Perspektiven zu eröffnen. Kunst gehört nicht in Funktionszusammenhänge von Systemen und Apparaten. Das macht ihre Besonderheit und ihre besondere Freiheit aus. Eine Kultur, die die Natur der Kunst verschleiert und damit den Blick in ihr Wesen verstellt, ist keine Kultur der Freiheit, sondern eine der Ausbeutung und Entfremdung. Es ist wichtig zu bemerken, dass auch Ausbeutung kultiviert werden kann und kultiviert wird, wozu nicht nur Ideologien der Zweckrationalität, Ökonomie und bürgerlicher Berufsbilder gehören, sondern auch die kommerzbasierte Kulturindustrie. Wir sollten zwischen “zweckfrei” und “funktionsentbunden” unterscheiden. Denn Kunst hat sehr wohl einen Zweck. Dieser ist nicht semantisch referenziell bestimmt, nicht in seiner “Bedeutung”, wie Gottlob Frege es benutzt, sondern in seinem “Sinn”. Anders ausgedrückt: der Sinn und Zweck der Kunst ist Freiheit. So verstanden gibt es keine zweckfreie Kunst. Kunst erfüllt ihren Zweck in Freiheit. Das kann nicht positivistisch gegenständlich bestimmt werden, weshalb ich die Parallele zu Freges Aufsatz ziehe.
Freiheit wird immer wieder und immer situativ und individuell zwischen Subjekt und Objekt im Wechselspiel realisiert. Es widerspricht ihr, sie von vornherein bestimmen zu wollen. Sie muss sich gerade einer funktionalistisch-teleologischen Bestimmung entziehen. Vorplanung ist Gift für sie, weshalb Projektitis auch immer den Tod der Kunst bedeutet. Aber Projektmittelvergabe ist für die freie Kulturszene zum wesentlichen Bestandteil und zur Existenzgrundlage geworden. Das ist ein Teil technokratischer Kultur, um Kunstfreiheit auszumerzen. Besonders aktiv sind hier die Feinde der Kunst und Freiheit. Der Form nach funktioniert die Kultur der Kunstfeindlichkeit mit Budgets, die für Projekte eingerichtet werden, worauf sich frei schaffende Künstlerinnen und Künstler mit ihren Projekten bewerben können. Das ist ein Widerspruch in sich selbst. Frei schaffende Künstlerinnen und Künstler, die sich mit Projekten irgendwo bewerben müssen, sind nicht frei schaffend. Das ist so systemsprengend undefiniert und unverständlich wie in der Mathematik die Division durch Null, die meine Mathematiklehrerin so zu erklären pflegte: eine Oma hat 100 € (damals DM), die sie gerne unter ihren Enkeln verteilen möchte, aber sie hat gar keine Enkel! Ja, dann ist sie auch keine Oma. So wird durch die staatliche Förderpolitik die Kunst ihrer Freiheit und damit ihrem Wesen beraubt. Das ist die Kultur der Kunstfeindlichkeit. Sie will den Menschen seiner Freiheit berauben und in der Entfremdung ausbeutbar halten wie eine Kuh an der Melkmaschine.
Wie kann die Freiheit der Kunst in einer solchen Gesellschaft wieder hergestellt werden? Oder müssen wir nicht besser sagen: überhaupt erst hergestellt werden?
Die Antwort auf diese Frage schlummert hier in den Tiefen des Archivs.
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